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Montag, 24. Oktober 2011

- 7:21 Uhr -

Mobil sein, immer on the top, überall und jederzeit erreichbar, das wollten doch alle heutzutage. Aber nicht Shaun. Bei all der Technik, die ihn am Arbeitsplatz umgab, beschränkte er sich privat doch eher auf das, was er für seine Bedüfnisse als wichtig erachtete - minimalistisch mußte alles sein, und je weniger Technik, umso besser. So sagte er sich sein Leben lang. Das Neue, das war vergänglich, das war heute schon von gestern. Doch auf die alten Dinge war Verlass. Und so war es nicht erstaunlich, das er eine alte Taschenuhr besaß, die
er pflegte und hegte. Sie war von Generation zu Generation in seiner Familie weitervererbt worden. So war sie nicht nur ein Stück Erinnerung, sondern auch Zeitgeschichte, denn allen hatte diese Uhr schon zuverlässige Dienste erwiesen.
Das Gehäuse war aus feinstem Messing, und der Deckel war innen mit Samt ausgelegt. Die Uhrkette befestigte Shaun, ganz wie es erdacht war, an seiner Weste. Er besaß viele Westen. Ob er sie sich zugelegt hatte, weil er die Uhr befestigen wollte, oder ob es die Sache so mit sich brachte, das wußte er nicht. Vermutlich beides.
Nach dem Frühstück polierte er die Uhr allmorgendlich. Ebenso des Abends, ehe er sie aufzog und sich ins Bett legte. Altmodisch, ja, sicher, das wußte er. Er verhielt sich nicht seinem Alter entsprechend - das hatte er nicht nur von seinen Arbeitskollegen oft hören müssen. Es war ihm gleich. Er war der geborene Einzelgänger. Er mied den Kontakt zu anderen Menschen privat, wo es nur ging. Geschäftlich natürlich nicht. Er war offenherzig seinen Kunden gegenüber und zuvorkommend, sehr freundlich und stets zuverlässig. Wie ein Uhrwerk lief sein Leben ab. Oft schon hatte er diesen Vergleich gemacht, und jedesmal wieder brachte es ihn zum Lächeln.


Nicht so an diesem Morgen. Er hatte den Uhrendeckel fein poliert und widmete sich nun dem Inneren des Zeitmessers, als ihm auffiel, das die Uhr die falsche Zeit anzeigte. 7:21 Uhr. Dabei war es mittlerweile 8:43 Uhr. Er brummte einen verwirrten Ton vor sich hin; das tat er immer, wenn er nachdachte. Komisch war es schon. In so vielen Generationen war diese Uhr nicht ein einziges Mal stehengeblieben. Doch er konnte diesem Phänomen nicht länger seine Aufmerksamkeit schenken, denn er mußte zur Arbeit. Auf dem Heimweg würde er bei einem Juwelier vorbei gehen und das überprüfen lassen.


An diesem Tag sah er besonders oft auf seinen nostalgischen Zeitmesser. Nachdem er ihn heute morgen wieder aufgezogen hatte, schien das Uhrwerk wieder wie gehabt zu funktionieren. Nun ja, dachte er, nach so vielen Jahren darf man schon mal müde werden. 
Um 14:37 Uhr warf er erneut einen Blick auf die Uhr - es waren nicht einmal mehr eineinhalb Stunden zum wohlverdienten Feierabend. Die Uhr zeigte wieder 7:21 an.  Ich werde das überprüfen lassen, dachte er grimmig. Er war genervt angesichts dieser scheinbaren Kleinigkeit. Er wunderte sich über sich selber, kühl und berechnend wie er sonst war. Nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen, seien es böse Worte seiner Kollegen, die Zurückweisung einer Frau oder eine unerfreuliche Nachricht. Doch das... er mußte zugeben, das er sich unsicher fühlte, wohl zum ersten Mal seit seiner Kindheit.
Nach Feierabend betrat er den Juwelier, der ein ganzes Stück weit von seiner Wohnung entfernt lag. Der Inhaber persönlich nahm sich des Schmuckstücks an und besah es sich in aller Ruhe in seinem kleinen Atelier. Nach einer scheinbar endlosen Zeit, während der Shaun desinteressiert in die Auslagen gestarrt hatte, kehrte er zu seinem Kunden zurück. Er sah den jungen Mann fest an und schüttelte den Kopf.
"Es ist kein mechanisches Problem," sagte er mit zurückhaltender, leiser Stimme, als ginge es um ein Geheimnis. "Der Chronometer ist vorbildlich gepflegt. Ich kann nichts für Sie tun."
"Hmm," brummte Shaun, "das ist seltsam. Gleich zwei Mal ist die heute stehengeblieben... "
"Es tut mir leid, mein Herr. Da weiß ich keinen Rat für Sie."
Shaun nickte - merklich genervt - und verabschiedete sich.


Es mußte knapp halb neun sein, die Nachrichten waren zu Ende, da warf Shaun erneut einen Blick auf die Taschenuhr. 7:21 Uhr. 
"Verflixt!" rief er, wütend und unsicher zugleich. Unsicher ob der Tatsache, das ihn das so aus der Bahn warf. Es ist doch nur eine alte Uhr, versuchte er sich zu beruhigen. Alt, uralt, und müde und matt. Die geht eben langsam kaputt. Mechanik hin oder her, was weiß der schon. Das olle Scheißding... Er holte aus, um die Uhr auf den Tisch zu werfen, besann sich jedoch eines besseren und legte sie wieder neben sich auf die Lehne seines Sessels. Was solls, versuchte er die Sache abzutun, doch er wußte, das es ihm nicht egal war.


Wie sollte es anders sein, am nächsten Morgen zeigte seine Taschenuhr 7:21 an, obwohl es weit nach acht Uhr war. Als er sie aufzog, beobachtete er die Zeiger. Hypnotisch bewegten sie sich vorwärts. Alles schien in Ordnung zu sein - bis zum Mittag, als es wieder 7:21 Uhr war, jedenfalls laut seiner Taschenuhr. Er war genervt, ja, er geriet aus den Fugen. Seine Kollegin, die höflich um eine Unterschrift für ein Schriftstück gebeten hatte, hatte er schroff behandelt. Dabei hatte es keinen Grund für einen solchen Ausrutscher gegeben. Shaun hatte sich geschämt, noch ehe sie aus seinem Büro gestürmt war, doch er hatte nichts gesagt. 
So gereizt verlief auch der restliche Tag, bis endlich Feierabend war. 
Übernervös bewegten seine Finger das Rädchen, mit dem man die Uhr aufzog. Hin, her, hin, her, hin, her. Sein Daumen war rot und wund vom Aufziehen der Uhr, das Fleisch tat weh. Doch er konnte nicht aufhören, an dem Rädchen zu drehen. Immer wieder blickte er auf die Uhr, und die Zeiger bewegten sich zuverlässig vor, wie sie es all die Jahre schon getan hatten.


Doch kaum war er Zuhause angekommen, kaum hatte er den Mantel ausgezogen und sich an den Küchentisch gesetzt, zeigte die Uhr wieder 7:21 Uhr. Er stieß einen erstickten Wutschrei aus und schmiss das vermaledeite Ding auf den Boden. Noch ehe er das Scheppern hörte, wollte er seine Tat rückgängig machen und die Uhr auffangen, doch es war zu spät.  In unzählige Einzelteile zerbrochen, mit verbogenem Deckel, lag die Uhr auf dem Boden, einem winzigen Trümmerhaufen gleich.
Shaun saß die halbe Nacht am Küchentisch und versuchte, das alte Erbstück wieder zusammen zu basteln, doch vergeblich. Er wollte gar nicht mehr zu Bett gehen, sondern direkt zur Arbeit. Würde er sich jetzt noch hinlegen, würde er vermutlich nicht rechtzeitig aufwachen. Er trank einige Tassen starken Kaffee und machte sich auf den Weg ins Büro.
Auf dem Weg dorthin griff er immer wieder geistesabwesend in seine Westentasche unter dem schweren Mantel. Doch seine Uhr war nicht an ihrem Platz. Zum ersten Mal in seinem Leben trug er sie nicht bei sich. Warum ihn das nervös machte, verunsicherte, wußte er nicht, aber es war so. Er war unachtsam, sah nicht nach rechts oder links, lief einfach drauflos, blickte nicht auf den Verkehr.
Dann erfaßte ihn ein Bus. Shauns Todeszeitpunkt war 7:21 Uhr.


- Ende -

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