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Freitag, 28. Oktober 2011

- Spiegelverkehrt -

Er saß auf seiner Pritsche und hatte das Gesicht, tränenüberflutet, in die Hände gestützt. Er konnte es nicht fassen. Zu dem Schock, den er noch lange nicht hatte verarbeiten können, kam die Erkenntnis, das er hier sehr lange Zeit würde verbringen müssen. Ein angstvoller Schauer durchlief ihn und er schüttelte sich, als wolle er etwas von der Last, die auf seinen Schultern lag, abwerfen.
Er sah immer wieder die schrecklichen Bilder vor seinem inneren Auge, und so konnte er keine Ruhe finden. Geschlafen hatte er, seit er hier war, wohl nicht mehr als zwei Stunden. Und das lag nun fast drei Wochen zurück.



Der Tag auf der Arbeit war anstrengend gewesen, und er freute sich auf zu Hause. Obwohl Vic am morgen einen lautstarken Streit mit seiner Frau gehabt hatte - sie hatten sich wegen irgendeiner Kleinigkeit in die Wolle bekommen, und ihm wollte partout nicht mehr einfallen, um was es gegangen war - freute er sich sehr auf sie. Er hatte einen Strauß bunter Blumen besorgt und wollte sich mit ihr versöhnen.
Doch schon als er zur Haustür eintrat sah er, das etwas nicht stimmte: der Flur war verwüstet, als hätte es einen Kampf gegeben. Er rief nach seiner Frau; seine Stimme überschlug sich nahezu, so aufgeregt war er. Er hatte die Blumen fallengelassen und rannte durch die Wohnung. In dem Augenblick, als er die Sirenen der Polizeiwagen hörte, fand er seine Frau: erstochen lag sie auf ihrem Bett, mit zerrissenen Kleidern, der Körper unnatürlich verrenkt.


Man hatte ihn für die Tat zur Verantwortung gezogen. Vic wußte nicht mehr, woran es gelegen hatte, das er keine Chance vor Gericht bekommen hatte: an seiner immer wieder kehrenden Beteuerung, seine Frau nicht ermordet zu haben, oder an seinem Verteidiger, der sich nicht wirklich für ihn eingesetzt hatte. Vermutlich beides, dachte er bitter. 
Und so saß er nun hier, Tag für Tag, auf seiner harten Pritsche in einem grauen, stinkigen Räumchen, das kaum größer war als seine Gästetoilette zu Hause. Und, würde kein Wunder geschehen, so würde er noch sehr lange hier sitzen müssen, viele Jahre. Doch das, so fand er, war nicht das schlimmste an der Misere. Schlimm für ihn war, das er seine Frau sehr vermißte und wußte, er würde sie, gleich wann er hier entlassen werden würde, niemals wiedersehen. Dieser Schmerz trieb ihn zur Verzweiflung, und er wußte nicht, ob und wann er jemals über diesen Verlust hinweg kommen könnte. Doch das sein eigener Schwiegervater, der vor Gericht über die Beziehung zwischen ihm und seiner Tochter hatte aussagen müssen, ihm zutraute, eine solche Greueltat zu begehen... das hatte ihm vollends den Boden unter den Füßen weggerissen.


So saß er nun hier, sein Gesicht aschfahl; er war dünn geworden in den letzten Wochen und sehr still. Niemand besuchte ihn, niemand sprach mit ihm, niemandem konnte er seine Gedanken anvertrauen. Der Richterspruch saß ihm in den Knochen und hallte immerzu in seinen Ohren nach. "Lebenslänglich" hatte es geheißen, lebens-länglich. Ein Leben lang, sagte er sich. Das war grausam, das war ungerecht. Er hatte seine Frau nicht... wie hätte er? Er hatte sie geliebt, über alles geliebt. Er hatte keinen Grund gehabt, ein solches Verbrechen zu begehen... doch wer dann?
"Eigentlich," dachte er niedergeschlagen, "spielt es jetzt keine Rolle mehr." 


Viele Wochen waren vergangen, seit das Urteil über ihm ausgesprochen worden war und wie ein Henkersbeil über seinem Kopf schwebte. Vic ging in den Waschraum und wusch sich - allein war er hier. Selten ließen sie ihn mit anderen Gefangenen zusammen, auch den Hofgang mußte er alleine absolvieren. Das kalte Wasser, das er sich ins Gesicht warf, rann hart und wohltuend seinen Hals hinunter. Immer wieder spritzte er sich Wasser ins Gesicht, als wolle er diesen Alptraum, in dem er sich befand, von sich waschen. Doch bei jedem Blick in den Spiegel wurde ihm gewahr, das es hier kein Entrinnen gab. 
Einen Moment stand er reglos da und betrachtete sich im Spiegel. Plötzlich zuckte da etwas. Er sah sich erschrocken um. Es war niemand hier. Er blickte wieder auf sein Spiegelbild. Es zwinkerte ihm zu. Er schüttelte den Kopf und wich einen Schritt zurück. Das Gegenüber im Spiegel jedoch blieb unbewegt. 
"Was zum... ?" begann er, und trat wieder ganz nah an den Spiegel heran.
"Vic, bleib ganz ruhig!" sagte seine Stimme im Spiegel. Vic zuckte zusammen und sah sich hektisch um. "Ich bin du, und du bist ich. Aber ich bin nicht auf deiner Seite der Welt."
Vic schüttelte es vor Schreck, seine Knie wurden weich und er stützte sich fest am Waschbecken ab, um nicht zu Boden zu stürzen. 
"Wer bist du?" flüsterte er. 
Der andere Vic lachte. "Ich sagte doch: ich bin du, und du bist ich. Doch ich bin hier, in der anderen Welt."
"Andere Welt?" fragte Vic leise und schaute sich wieder gehetzt um, ob ihn auch niemand beobachtete.
"Die Welt auf der anderen Seite des Spiegels, Vic. Hast du denn noch nie davon gehört?"
Vics Arme begannen zu zittern, so sehr klammerte er sich nun am Waschbecken fest. 
"Nun gut, ich sehe, das führt heute zu nichts. Vic, komm morgen wieder her! Versuch ein wenig zu schlafen, du siehst furchtbar aus. Es wird alles wieder gut!" sagte seine Stimme auf der anderen Seite des Spiegels.
Vic wollte etwas erwidern, doch mit einemmal sah er nur sein genaues Ebenbild, ausgemergelt und bleich, im Spiegel. Der andere Vic, gesund und ausgeruht, war verschwunden. Mit tattrigen Schritten kehrte Vic in seine Zelle zurück und legte sich auf die Pritsche. Er dachte noch eine ganze Weile über das seltsame Erlebnis im Waschraum nach, doch dann fiel er in einen unruhigen Schlaf, aus dem er erst am nächsten Morgen wieder erwachte. 


Es war das erste Mal, das er hier länger als ein oder zwei Stunden am Stück hatte schlafen können. Er fühlte sich zwar nicht ausgeruht, aber die lähmenden Kopfschmerzen hatten sich gelegt und er empfand etwas wie Ruhe in seinem Inneren. Dann fielen ihm die Worte des anderen Vic, seines seltsamen Spiegelbildes, wieder ein. "Es wird alles gut" hatte er gesagt. Was meinte er damit? Würde sich der Mord an seiner geliebten Frau aufklären und man würde ihn rehabilitiert entlassen? Er hoffte sehr darauf, mehr als auf alles andere!
Er bat Greg, den Wärter, ihn in den Waschraum zu lassen, wenn die anderen Häftlinge mit ihrer Morgendusche fertig waren. Greg geleitete ihn in Richtung der Waschräume und ließ ihn dann walten, wie er wollte. 
Vic sah sich in dem weitläufigen Raum um. Dann erspäht er, recht weit gegen Ende des Raumes nahe der vergitterten Fenster, ein Blitzen in einem der Spiegel. Er stellte sich davor und stützte sich wieder auf dem Waschbecken ab, um Halt zu haben. Doch als diesmal der andere Vic erschien fühlte er keine Furcht, sondern etwas wie Hoffnung in sich aufkeimen.
"Ich sehe, dir geht es heute schon besser," sagte der andere Vic zur Begrüßung. "Das freut mich sehr!"
"Erklär mir, was du gestern damit meintest, das alles gut werden wird!" forderte Vic ohne Umschweife.
"Nun gut, kommen wir gleich zur Sache," antwortete seine Stimme auf der anderen Seite. "Hier ist alles anders als bei dir. Das sollte logisch sein, meinst du nicht, denn hier ist alles spiegelverkehrt - oder bei dir ist alles spiegelverkehrt, wenn man es aus meiner Sicht betrachtet. Wir müssen nur die Seiten tauschen, und dann wird sich alles klären!"
"Du meinst, ich werde dann hier rauskommen?" fragte Vic hoffnungsvoll und schrak direkt zusammen, denn er merkte, das er sehr laut gesprochen hatte in seiner Vorfreude.
"Nun ja, zuerst wirst du wohl noch im Gefängnis sein. Aber es sieht sehr gut aus, das du bald schon entlassen werden wirst!"
"Emmy ist also... ?" Er beendete den Satz nicht. Sein Gegenüber nickte, doch er schien wenig betrübt zu sein. Vic seufzte schwer. Sein Herz tat weh, es war, als hätte jemand ein Messer hineingerammt.
"Wenn wir die Seiten tauschen, wirst du bald wieder ein anderes Leben führen können!" sagte das Spiegelbild.
"Warum willst du das tun?"
Der andere Vic lachte leise. "Nun ja, ich bin du und du bist ich. Wenn ich das nicht für dich tue, für wen dann?"
"Ich werde dir morgen bescheid geben," sagte Vic fest. Er blickte den anderen an, versuchte eine Regung in dessen Gesicht zu erkennen. Doch da war nichts - er blickte ihn offen an und lächelte.
"Bis morgen dann, Vic! Und denk dran: es wird alles gut!"
Vic nickte und ging zurück in seine Zelle. Wieder legte er sich auf seine Pritsche. Er dachte eine ganze Zeit lang über den seltsamen Vorschlag nach. Warum nicht? Niemand würde den Wechseln bemerken. Sie waren doch ein und dieselbe Person. Ehrlich wie Vic war, konnte er sich nicht vorstellen, das der andere Vic dies nicht sein sollte. Wieso auch? Er war dieser andere Vic, und der andere war er.
Er schlief wieder ein. Diesmal war es ein fester und ruhiger Schlaf, der Erfrischung mit sich brachte.


Nachdem er sich am anderen Morgen einen Tee gekocht hatte, saß er auf seiner Pritsche und dachte wieder über das Angebot des anderen Vic nach. Er fühlte sich ausgeruht - zum ersten Mal seit dieser Alptraum begonnen hatte. Immer wieder rief er sich die Worte des Anderen in Erinnerung: "es wird alles gut". Ja, warum nicht? Wahrscheinlich war in der anderen Welt, der Welt hinter dem Spiegel, bereits ein Beweis erbracht, das er unschuldig war! Logisch, sagte sich Vic, denn es war alles das Gegenteil von dem hier, was in seiner Welt geschah. 
Er stand auf und ließ sich, mit dem festen Entschluss, auf des anderen Vics Angebot einzugehen, in den Waschraum bringen.
"Du scheinst guter Dinge zu sein," begrüßte ihn der andere Vic im Spiegel. 
Vic nickte: "Ja, denn ich akzeptiere deinen Vorschlag! Lass uns die Seiten tauschen!"
Der andere Vic lachte. "Sehr schön! So gefällst du mir! Ich erkenne mich wieder!"
"Was muß ich tun?" fragte Vic, doch ehe er es sich versah, leuchtete ein strahlend helles, fast gleißendes Licht auf. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte er sich durchsichtig, als wäre er ein Geist. Doch je mehr das Licht abschwächte, desto mehr manifestierte er sich wieder.
Und dann - stand er wieder vor einem Spiegel und konnte in das Gesicht seines Gegenübers blicken.
"Das war alles?" fragte er erstaunt.
Der andere Vic nickte lachend: "Ja, das wars schon!"
"Und jetzt?" fragte er unsicher.
"Nichts. Du wirst es schon sehen, wenn du zurück in deine Zelle gehst. Alles wird seinen Gang nehmen, glaube mir!"
Vic zögerte. Ehe er sich abwandte, fragte er noch: "Werden wir uns wiedersehen? Ich meine, was ist, wenn... ?" Doch der andere Vic grinste ihn nur an und sagte nichts mehr. Dann war er verschwunden.
Vic stand einen Moment verunsichert am Waschbecken. Dann blickte er sich in dem Raum um. Es war ein kleiner, mit grauen Kacheln getäfelter Waschraum. In der Mitte der Außenwand befand sich nur ein kleines, vergittertes Fenster. Toiletten gab es hier gar keine, nicht wie in dem Waschraum auf seiner Seite des Spiegels. Alles wirkte düster, bedrohlich. Vic bekam ein flaues Gefühl im Magen. Seine Knie wurden wieder weich und er bebte vor Angst.
Irgendetwas stimmte hier nicht.


Er ging zurück zu seiner Zelle - oder vielmehr dorthin, wo seine Zelle auf der anderen Seite des Spiegels gewesen wäre. Doch ein hochgewachsener Mann saß dort auf seiner Pritsche. Er grinste Vic an und sagte: "Na, haste dich wohl in der Seite vertan, was?" Vic wollte ihm antworten, doch dann sah er, das er sich auf der falschen Seite des Ganges befand. Ja, klar, dachte er. Spiegelverkehrt. Er ging auf die andere Seite des Ganges und besah sich seine Zelle: auch sie war noch kleiner als seine eigentliche Zelle; hier und da waren mit Kohlestift Striche an die Wand gemalt, Namen waren eingeritzt worden.
Vic sank auf die Pritsche nieder und seufzte. Er hatte einen Fehler begangen, dachte er jetzt. Hier war was faul.
"Morgen kommt dein Anwalt," sagte eine Stimme in den kleinen Raum hinein. Ein Wärter trat zu ihm an die Pritsche und grinste hämisch. "Der wird auch nichts mehr ausrichten können!"
"Morgen erst?" fragte Vic bange.
Der Wärter klopfte mit seinem Knüppel gegen die Pritsche, wie zum Gruß, und ging.
Dann hieß es wohl abwarten.


Wie zu erwarten konnte Vic in dieser Nacht kein Auge zutun. Er wälzete sich auf der schmalen Pritsche hin und her und grübelte, was los sein könnte. Die Worte des Anderen wollten ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen.
"Es wird alles gut..." und "alles wird seinen Gang nehmen".
Am nächsten Morgen war er hundemüde und alle Knochen taten ihm weh. Diese Pritsche war dünner und noch unbequemer als die, auf der er vorher hatte liegen müssen. In seinem Schädel pochte ein monotoner Schmerz. 
Der Anwalt brummte nur zur Begrüßung und reichte ihm auch nicht die Hand. Vics Nervosität steigerte sich ins Unermeßliche. Er zappelte auf seinem Stuhl herum und konnte den Blick kaum auf den Anwalt richten, so sehr hatte die Furcht ihn im Griff.
"Wir haben das Angebot angenommen - Sie wollen doch hier raus?"
In diesem Moment huschte ein hoffnungsvolles Lächeln über Vics Gesicht und er nickte wie wild.
"Gut. Dann unterzeichnen Sie hier und - hier. In einer Woche werden Sie dann ins Sanatorium überstellt."
Vic fiel der Kugelschreiber aus der Hand. Der Schreck kroch langsam und eiskalt in ihm hoch und lähmte ihn. Wie versteinert starrte er den Anwalt an. Er wollte etwas sagen, ihn so viel fragen, doch er brachte kein Wort über die trockenen Lippen. Dann entfuhr ihm ein "aber wieso... ?". 
"Sie haben zugegeben, das Sie es waren - und auch wieder nicht Sie. Und sie wollen doch unbedingt hier raus... " hörte er den Anwalt wie durch eine Wolke sprechen. "Sie sagten, es sei der andere gewesen. Glauben Sie mir, man wird sich im Sanatorium gut um Sie kümmern!"
Glaube mir... alles wird gut, durchfuhr es sein Hirn. "Ja!" dachte er aufgebracht, "für dich wird alles gut, und ich werde weggesperrt!"
Dann wurde es ihm schlagartig klar: sicher, hier war alles spiegelverkehrt! Aber nicht zum Guten. Der andere Vic hatte seine Frau tatsächlich umgebracht... und er sollte dafür büßen...


Der andere Vic empfing freudestrahlend die gute Nachricht: es gab einen eindeutigen Beweis für seine Unschuld! 
"Ich habe doch gleich gesagt, das es der andere war!" grinste er hämisch.


- Ende -

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