Drama
GB 1996, OT: Secrets & Lies
Darsteller: Brenda Blethyn, Marianne Jean-Baptiste, Timothy Spall, Claire Rushbrook
Regie: Mike Leigh
Cynthia ist alleinerziehend und lebt mit ihrer 20-jährigen Tochter Roxanne in dem heruntergekommenen Haus ihrer Eltern am Stadtrand Londons. Zwischen den beiden Frauen herrscht eine von Hass-Liebe geprägte
Beziehung, die ständig in Streitereien ihren Höhepunkt findet, denn Cynthia ist nicht fähig, an die Liebe zu glauben. Eines Tages erhält sie den Anruf einer jungen Frau, etwas älter als Roxanne, die behauptet, die Tochter zu sein, die sie zur Adoption freigegeben hat. Die beiden Frauen treffen sich, und Cynthia stellt mit Erstaunen fest, das die junge Dame eine andere Hautfarbe als sie selber besitzt.
Cynthia und Hortense, die sich tatsächlich als ihre Tochter entpuppt, freunden sich schnell an und unternehmen fortan viel gemeinsam. So möchte Cynthia, geplagt von Schuldgefühlen Hortense gegenüber, diese ihrer Familie vorstellen. Sie hält Roxannes 21. Geburtstag als geeigneten Zeitpunkt dafür.
So kommt es an diesem Tag zu einigen Überraschungen, die an dem sowieso schon losen Gefüge der kleinen Familie hart zu rütteln drohen.
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"Lügen und Geheimnisse" ist ein ungewöhnlicher Film in dem Genre der Dramen. Manchmal scheint es, driftet der Film in die Kategorie "Tragikomödie" ab, denn viele Szenen scheinen so nah und doch so absurd, das man mit einem lachenden und einem weinenden Auge zuschaut, wie sich die Geschichte entwickelt.
Cynthia wird wundervoll von Brenda Blethyn mit der ihr eigenen Darstellungskraft verkörpert. Wer Blethyn kennt wird auch hier wieder erfreut sein, mit wieviel Energie und Einfühlungsvermögen sie dem Publikum die Rolle der mutlosen und verzweifelt einsamen Anfangvierzigerin nahebringt. Getragen von den finanziellen Problemen und der Sorge um ihre Tochter Roxanne ist sie nicht fähig, an Zuneigung und Liebe zu glauben, und möchte eigens verhindern, das ihre Tochter den selben Fehler begeht, den einst sie beging.
Die Streitereien und Nickligkeiten, die sich zwischen Roxanne und Cynthia abspielen sind aus dem Leben gegriffen: jede Tochter weiß, wie man sich in Situationen fühlt, wenn das Elternteil sich zu besorgt gibt, ohne das man je herzliche Nestwärme erfahren hat. Die Distanz, die zwischen "den Fronten" entstanden ist, die Unzufriedenheit und die Abneigung dem anderen gegenüber ist klar und realistisch dargestellt, und Claire Rushbrook - hier als Roxanne zu sehen - wird ihrer Rolle als aufmürpfige und unzufriedene Tochter mehr als gerecht.
Marianne Jean-Baptiste, die hier die Hortense und das nicht gewollte "Kind" mimt, bringt mit ihrer Rolle Wärme ins Spiel: aufgewachsen bei liebenden Eltern, die sie gefördert und umsorgt haben, die bei mehreren Brüdern liebevolles Durchsetzungsvermögen lernen durfte, scheint hier Roxannes komplettes Gegenteil zu sein. Nach dem Tod ihrer Eltern möchte sie nun die Wahrheit erfahren und sieht sich mit ganz anderen Problemen als der unterschiedlichen Hautfarbe konfrontiert: eine Familie nämlich, zu der sie nie gehörte und die ihr so fremd ist - und das nicht allein aufgrund der Klassenunterschiede.
Dann ist da noch Maurice, der oftmals nicht weiß wohin mit seiner Liebe, ist doch seine Schwester Cynthia mit seiner Frau spinnefeind, immer zerrüttet und hin und her gerissen zwischen den Menschen, die er am meisten liebt. Maurice hält die kleine Familie zusammen, hält sie "am laufen" und sich dabei grade so über Wasser. Wut und Verzweiflung unterdrückt er gekonnt, ist er ja nichts anderes gewohnt.
Wunderbar verkörpert Timothy Spall hier einen starken Mann, der sich nur zu gerne manchmal selber fallen lassen, aus seinem selbstauferlegten Käfig ausbrechen, alles herausschreien möchte. Dieser Mensch hat so viel Kraft, ohne sich dessen bewußt zu sein. Die Selbstlosigkeit und den Sanftmut, den diese Figur ausmacht, scheint Spall wie auf den Leib geschrieben. Eine großartige, wundervolle Leistung!
Der ruhige Erzähltstil wird nie langweilig. Der Film, die Geschichte, kennt keine Längen. Gar nicht fernab der Alltäglichkeit, der täglichen Probleme und Nöte, wird hier eine Handlung gestrickt, die dichter und tiefer kaum gehen könnte. Die Kontraste zwischen dem "nicht gewollten Kind", das in der oberen Mittelklasse großgeworden ist, und dem "gewollten Kind", das sich in der Arbeiterklasse beweisen muß, könnten kaum klarer gezeichnet sein. Realitätsnah kommt dieser Film daher, tiefschürfend werden Themen angesprochen, die in vielen Familien zu den Tabuthemen gehören.
Der Zuschauer wird schnell in die Handlung gesogen: machmal scheint das Herz überzulaufen vor Gefühl, ohne das es hier auch nur den Hauch von Kitsch oder Klischees gibt; manchmal möchte man den Protagonisten einfach nur "den Kopf waschen" oder in die Handlung eingreifen, denn dieser Film ist nicht zum "Abschalten": weder den Fernseher, noch den Kopf wird man hier einfach ausmachen können. Und doch unterhält die Geschichte, ist außergewöhnlich gewöhnlich, befremdlich nah und ungekannt vertraut. Ein wunderbarer Film über wunderbare Menschen!
Unbedingt ansehen! Ganz großes "kleines" Kino!
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