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Mittwoch, 24. Oktober 2012

Der Stuhl (2/3)

Gredi fühlte sich unausgeruht, unausgeschlafen, obwohl sie länger als sonst im Bett liegen blieb. Es war auch das erste Mal seit - ja, sie konnte sich nicht mal mehr daran erinnern - sehr langem wohl, das sie mit schlechter Laune aufstand. Antriebslos brühte sie sich einen Tee auf und saß lange reglos am Küchentisch. Der Stuhl zog ihren Blick auf sich.
Nachdem sie eine Scheibe Brot, mit nichts weiter als ein wenig Butter bestrichen, lustlos gekaut hatte, ließ sie sich kurzentschlossen auf dem alten Stuhl nieder. Der tiefe Schlaf ließ nicht lange auf sich warten.


 Eine weite Blumenwiese tat sich vor Gredi auf. Die Farben waren nun schillernder, kräftiger, die Konturen scharf umrissen, alles schien klar und schattenlos. Nicht wie bisher in den Träumen über die junge Frau mit dem welligen Haar, in denen alles etwas verschwommen, nebulös gewirkt hatte. Die violettfarbenen Töne der Astern sprenkelten das matte Grün der Wiese, die eingeschlossen war von Bäumen, deren Laub zu fallen begann. Auf dem Rasen tummelten sich unzählige Familien, auf Decken ihr Picknick ausgebreitet, die Kinder tobten umher, warfen sich Bälle zu oder spielten Federball. 
Endlich erblickte Gredi auch die junge Frau, die ihr so vertraut schien. Einsam saß sie auf einer wollenen Decke, etwas abseits der anderen, und blickte nachdenklich vor sich hin. Seicht ließ sie eine Blume durch ihre Finger gleiten, doch ihre Gedanken schienen in die Ferne entrückt. Der Mann war nicht zu sehen, und Gredi dachte, er sei womöglich aufgehalten worden - oder aber er habe sie ganz einfach versetzt. Gredi ließ den Blick von der träumenden Frau und sah sich um. Und dann - anfangs mit etwas Mühe, doch als sie sich konzentrierte, konnte sie ihn klar erkennen - sah sie den Mann. Er saß bei einer Frau auf der Decke, hielt ihre Hand und trank aus einem Weinglas. Um sie herum standen mehrere Teller mit angegessenen Broten und Kuchenkrümeln. 
"Komm, lass uns tanzen!" sagte plötzlich eine heitere, helle Männerstimme. Gredi sah einen jungen Mann, etwa im Alter der Frau mit dem gewellten Haar. Er hielt ihr eine Hand hin, doch sie sah ihn nur schweigend an und schüttelte den Kopf. Dann wanderte ihr Blick wieder in die Unendlichkeit, und der junge Mann trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.
"Ach komm schon, Emelie!" bat er ein wenig quengelig. "Sei doch kein Spielverderber!"
Doch sie schüttelte weiterhin den Kopf, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Mit hängenden Schultern verzog der junge Mann sich schnell. 
Gredi suchte erneut nach dem Mann, den Emelie offensichtlich liebte. Er tanzte mit der Frau, mit der er sich die Decke geteilt hatte. 

Erschrocken fuhr Gredi hoch. Was war das denn gewesen? dachte sie überrascht. Warum tanzte der Mann mit einer anderen Frau, wo er doch... ? Gredi setzte sich einen neuen Tee auf. Sie wollte unbedingt wissen, wie der Traum weitergehen würde. Sie konnte es kaum erwarten, sich wieder auf den Stuhl zu setzen. Dabei bemerkte sie nicht einmal, das bereits viele Stunden vergangen waren, seit sie in den Traum eingetaucht war.

 Emelie saß im Garten. Es war Winter. In der Luft lag ein Geruch von Tannen, Mistelzweigen und Schmorbraten, von frisch gebackenem Brot und Eierpunsch. Die Stube des Hauses, in dem Emelie mit ihrer Mutter und Großmutter lebte, war festlich weihnachtlich geschmückt: Ketten aus Trockenobst zierten die Treppengeländer, Schleifen und Glaskugeln waren an den Wänden angebracht. Engelshaar schlang sich um jede erdenkliche Türklinke und jeden Küchentürgriff. Alle Vorbereitungen für die große Weihnachtsfeier, zu der die ganze Familie geladen war, wurden getroffen, obwohl das Fest selber noch zwei Wochen hin war. 
Emelie saß auf einem einsamen Gartenstuhl, dick eingewickelt in eine Decke und einen langen Strickschal. Die Mütze hatte sie sich tief in die Stirn gezogen, um die Ohren vor der frostigen Kälte zu schützen. Wenn sie atmete, bildeten sich kleine Wölkchen vor ihrem Mund.
"Em! Telefon für dich!" rief laut ihre Großmutter aus dem Fenster.
Emelie raffte sich schnell auf und lief ins Haus. Atemlos keuchte sie in den Hörer:
"Hallo?"
"Hallo Liebes," sagte die vertraute Stimme ihres Geliebten. "Ich werde es heute abend nicht schaffen. Orella will noch Geschenke einkaufen, und das wird eine Weile in Anspruch nehmen..."
Noch ehe er weitersprechen konnte, entfuhr es Emelie vor Wut:
"Ach, vergiss es! Du hast ja doch nie Zeit, wenn ich dich brauche. Ich kann es dir nicht am Telefon sagen, das sagte ich dir bereits vor ein paar Tagen. Also nimm dir die Zeit, oder ich werde zu deiner Frau gehen!"
Sie legte auf und verharrte eine Weile reglos neben dem Telefontisch. Schließlich ging sie wieder zurück in den Vorgarten. Ganz so, als könne die klare Kälte ihren Geist reinigen und ihre Gedanken sortieren, saß sie noch bis zum Einbruch der Dämmerung dort.

 Gegen Abend klingelte es an der Tür. Einige Minuten später ging Emelies Zimmertür auf, und Frank trat ein. Er überreichte ihr einen Topf mit Christsternen und sah sie entschuldigend an.

"Was hast du ihr erzählt?" fragte Em ohne Umschweife in niedergeschlagenem Ton. 
"Em, Liebes... " begann Frank und wollte ihr Hand ergreifen. Doch sie schlug grob seine Hände beiseite und sah ihn eindringlich an.
"Das du zu arbeiten hast?"
Er nickte.
"Na klar, was auch sonst... !" sagte sie wütend. "Ich will, das du mit ihr redest. Oder wie lange möchtest du dieses Theater noch fortführen?"
Einen Moment sagte er nichts, doch dann schien er sich wieder gefaßt zu haben und baute sich mit durchgedrücktem Kreuz vor ihr auf. 
"So ist ja nicht mit dir zu reden, Emelie! Ich werde morgen wiederkommen!"
Und so rasch, wie er im Zimmer gestanden hatte, war er wieder verschwunden. Mit einem leisen Knall zog er die Tür hinter sich zu. Sie hörte seine wütenden Schritte, wie er schnell die Treppe hinunter eilte. Kaum das die Tür zu ihrem Raum zugefallen war, brach sie in Tränen aus.


- Fortsetzung folgt! -


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