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Freitag, 26. Oktober 2012

Der Stuhl (3/3)

 Zwei Tage hatte Frank sich nicht bei Emelie gemeldet. Sie war nicht nur nervös, nein, ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Hatte er vielleicht doch endlich mit seiner Frau gesprochen? War er möglicherweise schon dabei, seine Sachen zu packen und zu ihr zu kommen? Oder war er in ein Hotel gezogen? Sie hielt es kaum noch aus vor Anspannung. Ständig schlawenzelte sie ums Telefon herum, stets in der Hoffnung es möge klingeln und Frank möge sich melden. Mit guten Neuigkeiten. Doch nichts tat sich.

Am zweiten Abend war sie so niedergeschlagen, wie ihre Mutter sie selten erlebt hatte. Diese fröhliche, lebensbejahende Frau mit hängendem Kopf am Tisch sitzen zu sehen, mit geröteten Augen und verweintem Gesicht brach ihr das Herz. Doch sie wußte, sie konnte nichts tun. 
Schließlich aber meldete sich Frank doch noch. Er sagte Emelie, das er am nächsten Mittag zu ihr kommen würde. Dann könnten sie in aller Ruhe reden. Er habe sich frei genommen und hätte dann Zeit für sie allein. Emelies Herz pochte bis zum Hals, als sie ihrer Mutter die Nachricht überbrachte. Frank hatte so gut gelaunt geklungen, so positiv, und sie hoffte so sehr, das sich jetzt - noch vor Weihnachten - endlich alles klären würde.
Emelies Mutter sagte ihr zu, das sie und Großmutter am nächten Mittag Besorgungen machen würden, und sie würden erst abends nach Hause kommen, sodaß Em genug Zeit habe, sich mit Frank auszusprechen.
Em konnte in dieser Nacht kaum schlafen, so sehr vermisste sie Frank und so sehr freute sie sich auf den nächsten Tag.

Gredi schreckt erneut hoch. 
"Mist!" rief sie leise aus, als sie die Türklingel hörte. Schrill und laut hallte das Geräusch in ihren Ohren nach. Sie stand auf und ging schlurfend zur Tür. Ihr Bekannter stand da, mit einem besorgten Gesichtsausdruck und wohl überrascht, sie jetzt zu sehen.
"Gredi!" sagte er. "Sag mal, warum meldest du dich nicht?"
Gredi ging zurück in die Küche, setzte Wasser auf und sah ihn überrascht an.
"Was soll das denn heißen, bitteschön?" fragte sie gereizt. "Wir haben uns doch erst gestern gesehen, du Witzbold."
George machte ein ebenfalls überraschtes Gesicht und lachte; ein wenig bitter klang es.
"Gredi, das war vor drei Tagen! Ich hab mindestens zehn mal angerufen gestern. Wir waren verabredet, bei Irma und... "
"Waaas?" rief sie langgezogen. "Das kann ja nicht sein!"
Und doch, so war es. Sie war sich nicht gewahr geworden, wie viel Zeit in ihren Träumen vergangen war.
"Du solltest dich ausruhen, Schätzchen," sagte George, "du siehst richtig groggy aus. Leg dich hin, ich mach dir was zu essen, und dann schläfst du dich mal richtig aus."
Sie schluckte hart. Was sollte sie nun sagen? Das sie seit drei Tagen bereits schlief? Das mußte aufhören! dachte sie noch. Doch kaum das George zur Tür hinaus war, gab sie der Verlockung widerstandslos nach, erneut in die Welt von Emelie abzutauchen. 

 Emelie saß am Küchentisch. Auf einem sperrigen, dunkelbraunen Holzstuhl, blankpoliert zwar, aber dennoch nicht schön sah er aus. Die Finger ihrer rechten Hand tippten unaufhörlich, nervös, zuckend immer wieder auf die Tischdecke. Es war bereits nach eins, und sie fragte sich, wo Frank blieb.
Als es endlich an der Tür läutete, sprang sie hastig auf und rannte ihm entgegen. Dabei wäre sie fast gestolpert, konnte sich jedoch gerade noch am Türrahmen abfangen um nicht zu fallen. Sie riss die Tür auf und fiel Frank, ganz gleich ob jemand sie sehen könnte, um den Hals und küßte ihn stürmisch. Er drängte sie vorsichtig, mit verstohlenem Blick, ins Haus und sagte:
"Lass uns in die Küche gehen, Liebes." Seine Stimme klang warm und weich, doch in seinem Unterton schwang etwas mit, das Emelie unheimlich war.
Sie ließen sich am Küchentisch nieder, Emelie setzte Kaffee auf, und Frank sah sie eine Weile schweigend an. Er sah gedankenverloren auf die Tischdecke, mit starrem Blick, abwesend. Sie ergriff seine Hand und streichelte sie, doch er entzog sich ihr. Frank räusperte sich.
"Emelie... " begann er, nach Worten ringend.
"Ich bekomme ein Kind!" platzte es aus ihr heraus.
Wie vom Donner gerührt sprang Frank auf. Er sah sie kopfschüttelnd an und wußte nichts zu sagen. Stotternd entrang es sich seiner plötzlich trockenen Kehle:
"Aber Em! Wie stellst du dir das vor? Ich habe schon zwei Kinder!" 
"Wie ich mir das vorstelle?" brauste sie auf. "Du verläßt deine Frau, ganz einfach. Und wir können zusammen sein... eine eigene Familie, Frank!" Der letzte Teil klang so zärtlich, als habe sie sich das immer gewünscht.
Frank lief in der Küche auf und ab. Er rang mit seinen Händen, ballte sie immer wieder zu Fäusten.
"Nein! Nein, nein und nochmals nein! Ich kann Orella nicht verlassen!"
"Du kannst nicht?" schrie sie ihn an.
"Ich will nicht!" schrie er zurück. "Und ich werde nicht! Du wußtest, auf was du dich einläßt, Emelie! Tu' nur nicht so, als wäre dir das alles neu." Er zog den Stuhl an sich heran und wollte sich eben niederlassen, als sie in Tränen ausbrach und schrie:
"Du bist ein mieses Stück! Hau ab! Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben!"
Doch Frank trat an sie heran, nahm ihren Kopf in seine Hände und küßte ihre Stirn.
"Liebes..." sagte er leise, wenn auch aufgewühlt. "Wir..."
Einen Moment schwiegen sie. Frank begann wieder auf und ab zu laufen. Emelie stützte den Kopf in die Hände, die Tränen liefen ihr brennend über die bleichen Wangen.
"Du kannst es wegmachen lassen, Em," sagte Frank unvermittelt in die Stille. "Und wenn die Kinder etwas älter sind, dann werden sie auch verstehen, wenn ich gehen werde."
Emelie sah ihn zornig an. Etwas wie Hass funkelte in ihrem Blick auf. Nur kurz. Dann wich es wieder der Traurigkeit, der Verzweiflung.
"Ich werde das Kind bekommen, Frank, ob es in dein Heile-Welt-Bild paßt oder nicht!"
"Em!" rief er, jetzt völlig aufgebracht. Er hielt inne und sah sie kopfschüttelnd an.
"Du bist so stur!" sagte er mit Nachdruck. "Unvernünftig. Warte doch noch ein wenig, und dann sehen wir weiter..."
"Warten? Wie lange noch, Frank, wie lange noch?" sagte sie wütend, mit knurrender Stimme. "Ich habe lange genug auf dich gewartet! Du hast dich noch immer nicht entschieden, nach all der Zeit nicht. Weder für mich noch gegen mich... und ich dachte..."
Sie seufzte und starrte mit bitterem Blick auf den Tisch. Sie war fassungslos ob dessen, was er ihr gerade offenbart hatte. Mit einem Mal waren all ihre Träume, Hoffnungen und Wünsche zerborsten. Die Scherben ihrer Seele lagen vor ihm auf dem Boden, und er trat sie mit Füßen, sah über ihre Gefühle hinweg, als wäre das alles nichts, unwichtig, nichtig.
Frank ergriff ihre Hand. 
"Em," sagte er, bemüht sanft zu klingen, eindringlich den Blick auf sie gerichtet. "Überleg doch noch mal vernünftig. Ist es nicht besser so?"
Sie schwieg beharrlich. Das Ticken der Uhr im Wohnzimmer schien mit einemmal alle Geräusche zu übertönen, selbst ihren Herzschlag. Sie fühlte sich, als müsse sie ersticken, wenn sie jetzt weiter an sich hielt.
"Besser für dich, Frank, nur besser für dich," sagte sie verbittert. "Was ich will ist dir gleichgültig. Hauptsache ist, du kannst mit deinem Spiel weitermachen wie bisher... Wie lange warte ich schon auf dich, Frank. Drei Jahre. Drei lange Jahre... und nun hast du alles zunichte gemacht, du verlogener... "
Sie vollendete den Satz nicht. Als sie aufblicke und ihn ansah, war ihr Blick stechender denn je, ein kaltglitzernder Funke lag darin, der ihm zu verstehen gab, das es aus war mit ihnen, das sie ihren Weg auch ohne ihn gehen würde.
"Emelie... " sagte er drohend. "Wenn du nicht zur Vernunft kommst, dann..."
"Dann was?" keifte sie. "Läßt du mich mit dem Kind sitzen? Pah!" Sie spuckte ihm symbolisch entgegen. "Ich verzichte auf dich. Geh. Ich will dich nicht mehr wiedersehen!"
Frank sprang auf. Seine Hände legten sich mit einer plötzlichen Schnelligkeit um ihren Hals, wie ein Löwe der sich auf seine Beute stürzt. Er drückte zu, immer fester. Ihre Augen waren schreckensweit aufgerissen. Ihrer Kehle entrangen sich gurgelnde Laute. Immer fester schlossen sich seine prankengleichen Hände um ihren zarten Hals. Und schließlich lag sie schlaff in seinen Händen. Stille machte sich breit. Das Ticken der Uhr verstummte. Sein Herz pochte hart und laut in seiner Brust, die sich krampfartig zusammenzog. Immer wieder. Er japste nach Luft. Er geriet ins Wanken, eine Hand ans Herz gepreßt, das nicht aufhören wollte so schnell zu schlagen. Ruckartig, mit heftigen Stößen gegen den Brustkorb hämmernd. Er konnte nicht mehr atmen. Eine Hand suchte Halt am Tisch zu finden, doch er brach zusammen. Erst nach einer endlos erscheinenden Weile setzte das Ticken der Uhr wieder ein. Und erst jetzt fiel Franks Arm schlaff zu Boden, bettete sich neben seinen leblosen Körper.

Gredi öffnete die Augen. Tränen rannen ihr über die Wangen. Es war dieser Stuhl gewesen, auf dem Emelie umgebracht worden war. Nun hatte sie es erkannt. Und der Mann... Frank... Als sie ihre Mutter, die bei ihrer Mutter großgeworden war, als Jugendliche nach deren Vater gefragt hatte, hatte sie geschwiegen. Erst viele Jahre später hatte sie den Mut gefunden Gredi zu erzählen, das ihr Großvater Frank einst aus Liebe an einem Herzinfarkt verstorben sei. Doch näher war sie nie darauf eingegangen.


- Ende -


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