Diesen Weg hatte er schon oft eingeschlagen. Manchmal nahm er einen anderen Weg, wenn er von der Arbeit nach Hause ging, doch dieser war der kürzeste. Heute war es kühl, die Luft feucht und dünn, und trug einen herbstlichen Duft mit sich. Der Abend war hereingebrochen, und seichte Dunkelheit begann die Gassen zu umschlingen. Bodennebel kam auf, und ein Frösteln lief durch Alberts Glieder. Er schlang den Schal fester um den Hals und steckte die Hände noch tiefer in die Taschen seines kurzen Mantels.
Als er in eine schmale Gasse einbog - und einen Augenblick erschien es ihm, als sei er hier nie zuvor gewesen - hörte er Schritte hinter sich. Ungewöhnlich war das nicht um diese Uhrzeit. Doch selten, denn in diesem Viertel war nie viel los. Jedoch dachte er sich nichts dabei und lief weiter seines Weges. Sein Blick war nun starr auf die Pflastersteine gerichtet, um nicht auszurutschen, denn sie waren glatt und der Nebel verdichtete sich. Die Schritte hinter Albert waren ungleich zu seinen und es schien, als hole der andere auf, ging schneller als er selber.
Bedacht lief Albert weiter, mit der Zeit immer vorsichtiger. Die Schritte hinter ihm näherten sich nun sehr rasch, und Albert war verunsichert, hielt abrupt inne und spähte in die düster gewordene Gasse, ob er den anderen erkennen könne.
Mit einem Mal tauchte das Gesicht des Unbekannten vor ihm auf, mit einem hämischen Grinsen.
"He, du!" sagte der mit kratziger Stimme. "Gib mir ein wenig Klimpergeld, ich will noch was trinken gehen!"
Albert war so verblüfft, das ihm ein verwundertes Lächeln schief über die Lippen huschte.
"Aber guter Mann," sagte er beschwichtigend, "Sie werden doch selber Lohn für Ihre rechtschaffene Arbeit erhalten und... "
"Lohn?" höhnte der Fremde. "Los, du, rück ein paar Münzen raus! Sonst wird es dir noch leid tun!"
Die Heftigkeit, mit der er den letzten Satz ausstieß, ließ Albert erschaudern. Eiskalt lief ihm die Angst den Rücken hinunter. Er griff an die Innentasche seines Mantels, als ihm ein Blitzen in der Hand des Anderen auffiel.
Ein Messer! dachte er entsetzt.
Mit zittriger Hand suchte er seine Geldbörse, als er einen brennenden Stich verspürte.
"Das haste jetzt davon!" rief der Fremde.
Albert verspürte einen ziehenden Schmerz, wie Feuer breitete er sich im Körper aus. Er sackte zu Boden, suchte sich mit einer Hand noch an der rückwärtigen Mauer abzustützen. So plötzlich, wie der Unbekannte vor ihm gestanden hatte, rannte er davon. Der Nebel umhüllte Albert und ihm schienen die Sinne zu schwinden.
Albert sah sich um. Es war stockfinster und ihm war eiskalt. Die Straßenlaterne spendete nur einen matten Schein, und mit einem Mal kam die Erinnerung an den Fremden und sein Messer. Albert tastete seinen gesamten Körper ab. Was er anfangs für einen Stich gehalten hatte mußte wohl nur eine Schramme sein, denn der Schmerz war fast ganz gewichen. Benommen zog Albert sich an der Wand hoch und blieb einen kleinen Augenblick ruhig stehen, um seine Sinne zu sammeln.
Verängstigt schaute er sich um, konnte aufgrund der Dunkelheit jedoch nichts erkennen. Er war verwirrt und entschloss sich, seinen Heimweg fortzusetzen und sich die Verletzung zu Hause in Ruhe zu besehen. Langsam, sich immer wieder umblickend, lief er die Gassen entlang. Bei der nächtlichen Finsternis kam ihm alles hier unbekannt vor. Doch erst als er an einer Gaststätte ankam, die er nie zuvor erblickt hatte, wurde ihm gewahr, das er sich auf dem falschen Weg befand.
Schritte näherten sich, hinten in der Gasse, rasch und hart. Alberts Herz pochte zum Zerspringen in der Brust, und ohne lange nachzudenken kehrte er in die Schenke ein. Hier wollte er sich besinnen und nach dem Weg fragen.
Am Tresen stand ein bärbauchiger Mann mit dreckiger Schürze und schmutzigem, grauen Bart. Ein Mann saß geduckt in der schlecht beleuchteten Windung der Theke, vor sich ein Glas. Hier und da saßen vereinzelt ein paar Männer, alle alleine, keiner unterhielt sich. Es herrschte eine seltsame Stille, die nur vom leisen Surren der Gaslampen durchbrochen wurde. In einer Nische, die sich neben dem Eingang zu den Toiletten befand, war etwas wie eine kleine Empore zu erkennen, auf der eine Fidel in der hintersten Ecke lehnte. Alles war in ein gelbliches Licht getaucht, abgesehen von den Tischen in den Ecken und an den Fenstern, die fast im Dunkeln zu versinken schienen.
Albert ließ sich in einer der dämmrigen Ecken nieder, den Blick fest auf die Tür geheftet. Diesen Mann, den Fremden, würde er sicherlich sofort erkennen, sobald er eintreten würde. Doch die Tür öffnete sich nicht.
"Was darfs sein, guter Mann?" rief mit tiefer Stimme der Wirt in Alberts Richtung.
Albert sah ihn irritiert an, ehe er sich klar wurde, das er etwas bestellen mußte, um hier sitzen zu dürfen.
"Einen Whisky, bitte," antwortete er halblaut und rieb seine Hände aneinander. Sie waren kalt und ungelenk. Auch seine Füße in den ledernen Schuhen waren wie eingefroren, die Zehen schmerzten bereits. Was gäbe er darum nun zu Hause zu sitzen und sich am Feuer wärmen zu können! Albert seufze.
Der Wirt stellte ihm den Whisky hin. Einen kurzen Moment sah er ihn eingehend an, mit einem sonderbaren Blick. Etwas wie - ja, war es Mitleid? - Bedauern lag darin.
"Wenn's hier zu einsam wird: am Tresen ist immer ein freundliches Plätzchen frei," sagte er noch, ehe er sich wieder hinter die Theke begab.
Albert beobachtete ihn einen kurzen Moment, ehe er seinen Blick wieder auf die Tür heftete. Erst nach einer schier endlosen Weile blinzelte er einige Male, wandte sich ab und leerte sein Glas in einem Zug.
Nachdem ungefähr eine Stunde verstrichen war, hatte Albert sich einigermaßen gefangen. Er atmete wieder ruhig, sah nicht mehr gehetzt zur Tür und hatte nun endlich die Muße gefunden, sich die anderen Gäste dieses - und dabei räusperte er sich in Gedanken - Etablissements zu besehen. An sich war an keinem von ihnen etwas Auffälliges. Sie wirkten alle, als seien sie hart arbeitende Männer, die nach dem Tagewerk gerne noch ein Bier trinken gingen. Nur einer von ihnen schien noch sehr jung, möglicherweise erst zwanzig Jahre alt. Doch alle hatten etwas gemeinsam: sie sahen unendlich traurig aus. Abgesehen von dem Mann am Tresen. Er hatte etwas Seltsames an sich. Albert konnte nicht benennen, was es war, doch er schien anders zu sein als die anderen. Vielleicht lag es an seinem Blick: in seinen Augen funkelte etwas schalkhaftes. Als der Mann zu Albert sah, wandte dieser seine starrenden Augen rasch ab.
Ärger, dachte er, hatte ich heute beileibe genug!
Und so stierte er auf den Tisch, in sich gesunken.
"Darfs denn noch was sein, guter Mann?" ertönte die Stimme des Wirts vom Tresen her.
Albert nickte nur und deutete wortlos auf sein leeres Glas. Kurzum erschien der Wirt mit der Flasche, stellte sie vor Albert ab und sagte:
"Wenns genug ist, krieg ich sie wieder zurück. Doch ich glaube, die kann der Herr heut brauchen."
Wieder bedachte er Albert mit diesem merkwürdigen Blick voller Bedauern. Wärme lag in seinen Augen, und Albert war darüber fast mehr erstaunt als über das Messer in der Hand des Diebes.
Er schenkte sich ein und trank den Whisky, der langsam seinen vollmundigen Geschmack verbreitete. Ihm wurde ein wenig wohliger, und er legte den Mantel neben sich auf die Sitzbank.
- Fortsetzung folgt! -
© Soda. Shadow
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