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Mittwoch, 31. Oktober 2012

Die Gaststätte (2/2)



















 Wie lange er in der düsteren Ecke gesessen hatte, wußte Albert nicht zu sagen. Nach dem dritten Glas Whisky überlegte er, den Heimweg anzutreten. Doch da er nicht wußte, in welcher Gegend er sich befand und wie er zurück auf seinen eigentlichen Weg kommen könnte, wollte er den Wirt befragen.

Er nahm sein Glas und die Flasche, legte sich den Mantel über den Arm und ließ sich auf einem Hocker an der Theke nieder. 
"Guter Mann," sagte er, nachdem er mit einem leisen Räuspern die Aufmerksamkeit des Wirtes hatte. "In welcher Gasse genau befindet sich diese Schenke?"
Der Wirt schien zu schmunzeln, verzog jedoch keine Miene. 
"Nun..." begann er, wurde jedoch von dem Kerl mit dem seltsamen Blick barsch unterbrochen:
"Das, lieber Mann, weiß hier keiner!"
Der Wirt hatte sich indes abgewandt und schien beschäftigt, Gläser zu polieren.
Albert sah den Mann skeptisch an.
"Was soll das bedeuten, wehrter Herr?"
"Wehrter Herr!" lachte der Fremde. "Wehrter Herr hat mich noch nie einer genannt!" Sein Lachen klang knarrend und knorrig, ganz so, als habe er schon sehr lange nicht mehr aus vollem Halse gelacht.
"Die Antwort, nach der dir verlangt, Herr, kann dir hier niemand geben," sagte er grinsend und betonte das Wort 'Herr' auf verzerrte Weise. "Aber will der Herr mir nicht dennoch etwas zu trinken spendieren?" Er schob ungeniert sein leeres Glas in Richtung Alberts Flasche.
Albert schenkte ihm ein. Vielleicht konnte er so eine Antwort aus ihm herausbekommen. Der Fremde trank einen Schluck, besah sich dann mit Glitzern in den Augen den bernsteinfarbenen Inhalt des Glases, wandte sein Gesicht wieder Albert zu und lächelte schief. Dann streckte er ihm die linke Hand entgegen:
"Mein Name ist Harry. Und wie ist dein Name, Herr?"
Und nun wußte, was an dem Mann so fremdartig, eigentümlich erschien: er besaß keine rechte Hand! Dort, wo Fingerglieder und ein Handballen hätten sein müssen, war nichts, nur ein hohler Ärmel.
"Mein Name ist... Al... Albert," stotterte Albert und versuchte, den Blick abzuwenden.
Harry lachte kratzig.
"Sie wurde mir abgehackt, Al-Albert," spöttelte er, "bei einem Überfall."
Schlagartig hatte Albert sich wieder im Griff, auch wenn ihm ein wenig mulmig zumute war.
"Ein Überfall, Harry?" fragte er, neugierig geworden. Der Whisky, so dachte er noch, mußte die Antriebsfeder sein, mit diesem zwielichtigen Burschen eine Unterhaltung führen zu wollen.
Harry erzählte, während er sich und Albert noch ein Glas eingoss, das er eines Abends, als er auf dem Heimweg von der Arbeit im Hafen gewesen sei, Opfer eines Überfalls wurde. Zwei Kerle hatten ihm aufgelauert um ihn zu berauben, doch da er sich seinen sauer verdienten Lohn nicht hatte abnehmen lassen wollen, hatte einer von ihnen mit einer kleinen Axt einfach seine Hand abgehackt, während der andere seine Geldbörse stahl. Schließlich hatten sie ihn, als er am Boden lag, noch einige Male getreten und waren - wie feige Hunde - davon gelaufen. Und so sei er hierher gelangt.
Albert sah ihn mit schreckensweit aufgerissenen Augen an. Er trank entgeistert einen Schluck und schüttelte, von Mitleid gerührt, den Kopf.
"Welch furchtbare Angelegenheit! Hast du denn nicht direkt einen Doktor aufgesucht, Harry?"
Die Wärme in Alberts Stimme rührte Harry sichtlich, und er rückte einen Stuhl näher an den guten Mann heran. Er legte den handlosen Arm um Alberts Schulter und sagte in vertrauensseligem Tonfall:
"Guter Albert, du mußt noch einiges lernen!" Er lächelte, doch diesmal war jeder Spott gewichen.

 Albert und Harry saßen lange beisammen. So lange, das der Wirt, der sich schließlich als Fred vorstellte, ihnen eine weitere Flasche Whisky auf den Tresen stellte. Seltsamerweise, so bemerkte Albert erst jetzt, verspürte er kein Gefühl von Trunkenheit. Und das hätte sich längst schon einstellen müssen, denn von Alkohol nahm er im Normalfall immer gerne Abstand. Nur zu besonderen Anlässen, wie die Geburtstags- oder Weihnachtsfeiern im familiären Kreise, trank er gerne dann und wann einen Whisky oder Punsch.
Doch je weiter die Nacht voranschritt, desto vertrauter wurde ihm Harry. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben einen Mann getroffen zu haben, mit dem er so viele Gemeinsamkeiten hegte, und seien sie nur geistiger Natur. Diese Unterhaltung mit dem zuerst ominös erscheinenden Fremden, den er allein aufgrund seines Aussehens fahrlässig als dubiose Erscheinung bezeichnet hatte, entpuppte sich als inspirierend und wohltuend. Und so kam es dann auch, das er Harry den Vorfall des vergangenen Abends anvertraute, das er ihm seine Furcht offenbarte, die der Missetäter mit dem Messer ihm eingeflößt hatte.
Doch entgegen der Hoffnung, Harry möge ihm Trost zusprechen, sah dieser Albert nur schweigend an. Das erste Mal wohl das er schwieg, seit sie beisammen saßen, schien Harry nämlich von dem Schlag Mensch zu sein, die auf alles eine beruhigende Antwort zu haben schienen. 
"Mein lieber Freund Albert," sagte Harry endlich nach einer langen, beklommenen Weile. "Ich weiß sehr wohl, was mit dir geschehen ist. Doch ich denke, du selber bist dir noch nicht im Klaren darüber, was dies alles zu bedeuten hat. Und so ist es wohl wieder einmal an mir, Licht ins Dunkel einer Seele zu bringen."
Er nahm einen tiefen Schluck, schenkte sich umgehend erneut das Glas voll, bedeutete Fred mit einer kleinen Geste, eine weitere Flasche über den Tresen zu reichen, und sah Albert schließlich eindringlich an. 
"Dieser arme Kerl dort," sagte Harry dann und deutete auf einen älteren Mann, dessen Gesicht von tiefen Furchen durchzogen war und der mit traurigem Blick vor sich hinstarrte, als gäbe es den Rest der Welt nicht mehr, "ist Phil. Er arbeitete ebenfalls im Hafen und war kurz vor seinem wohlverdienten Ruhestand. Eines abends, als er nach Hause zu Frau und Kindern ging, wurde er von ein paar Kerlen überfallen, die ihn beraubten und niederstachen. Und dieser gute Mann -" er deutete auf einen Mann, der wohl um die Fünfundvierzig war und in Hemdsärmeln vor einem Krug Bier saß, mit weit entrücktem Blick, und eine Zigarette rauchte, "ist Rudolph, Rudi, einst Schankwirt, der in seinem Gasthof bei Nacht überfallen und mit einer Pistole niedergeschossen wurde. Und der junge Knilch -" nun wies Harry mit dem hohlen Ärmel, den seine rechte Hand hätte ausfüllen sollen, auf den Jüngsten im Gasthaus, "ist Paul. Er musizierte. Am hellichten Tag stahl ihm einer seinen Lohn aus dem Hut. Als er ihm nachrannte, wobei er seine Fidel verlor, stach der Dieb ihn mit einem Messer nieder. Und der da hinten, in der Ecke, mit dem Hut im Gesicht, das ist Mike. Auch er wurde des nachts überfallen. Drei Männer haben sie gebraucht um ihn aufzuhalten, sonst hätte er die Diebe in die Flucht geschlagen. Und der gute Fred-" er nickte mit erhobenem Glas dem Wirt zu, der mit einem Lächeln den Gruß erwiderte, "wurde so oft mit einem Knüppel von hinten niedergeschlagen, das er sich ungern umwendet."
Harry seufzte und trank sein Glas aus. Er betrachtete Albert nun eingehend, der während seiner Erzählung die Gäste in der Schenke intensiv beobachtet hatte.
"Das ist doch... aber das kann doch nicht..." keuchte Albert japsend. "Alle wurden wir überfallen..."
Über Harrys Gesicht huschte ein trauriges Lächeln.
"Nein, lieber, guter Albert," sagte er sanft und sah den Neuen mit schwermütigem Blick an, "alle sind wir tot."


- Ende -

© Soda. Shadow

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